Zartheit war ihre Stärke



Zartheit war ihre Stärke

Eine Schallplattenedition zum Andenken an die Pianistin Clara Haskil

Von Peter Feuchtwanger

Zuerst erschienen in der FAZ Nr. 218 vom 20. September 1975

Kürzlich fand in Vevey in Verbindung mit dem Musikfestival von Montreux-Vevey der 6. Clara-Haskil-Wettbewerb statt. Er wurde 1963 gegründet, um die Erinnerung an die große Pianistin wach zu halten, die in ihren letzten Jahren in Vevey lebte und deren außerordentliche Kunst und Persönlichkeit auf ihre Zeitgenossen einen tiefen Eindruck gemacht hat. Der Jury des Wettbewerbs gehörten bedeutende Pianisten wie Nikita Magaloff und Vlado Perlemuter an. Auch Peter Feuchtwanger, Pianist, Pädagoge und ehemaliger Haskil-Schüler, war Mietglied dieser Jury.
Vor fünfzehn Jahren kam die Pianistin Clara Haskil auf tragische Weise durch einen Unfall ums Leben. Dieses Jahr wäre sie 80 geworden. Die Schallplatten der aus diesem Anlaß von Philips herausgebrachten Clara-Haskil-Gedächtnis-Kassette erscheinen somit zu einem besonders geeigneten Zeitpunkt.
Was hier von Clara Haskil dargeboten wird, stellt nur einen Teil ihres Repertoires dar. Manche werden überrascht sein, zu erfahren, daß in ihren früheren Programmen, wie das auch bei ihren älteren Kollegen der Fall war, Werke wie Balakirews "Islamey", Brahms´ "Paganini-Variationen" oder "Das große Tor von Kiew" aus Mussorgsky "Bildern einer Ausstellung" häufiger anzutreffen waren als eine Mozart-Sonate. Auch spielte sie des öfteren Hindemith oder Bartok oder Erstaufführungen von Werken zeitgenössischer, heute teilweise wieder in Vergessenheit geratener Komponisten.
Als Clara Haskil zum ersten Male die B-Dur-Sonate op. posth. D 960 von Schubert spielte, war dieses Werk zuvor nur selten zu hören gewesen. Seither wird dieses Spätwerk wahrscheinlich öfter gespielt als alle anderen Schubertschen Sonaten. Aber bekanntlich werden nur wenige Pianisten diesem Werk mit seinen "himmlischen Längen" wirklich gerecht - ist doch der Pianist hier den gleichen Schwierigkeiten ausgesetzt wie ein Dirigent der "großen" C-Dur-Sinfonie von Schubert. Leicht kann der erste Satz zerstückelt wirken, wenn er seiner klassischen Form beraubt wird. Und Form ist für ein Kunstwerk nicht nur Hülle, sondern zugleich auch Skelett. Bei Clara Haskil begreift man, daß jede Note für den Gesamtbau von Bedeutung ist, daß jede Nuance klar definiert sein muß.
Die Akkorde des Anfangsthemas werden aufs schönste balanciert. Melodie und Begleitung heben sich klar gegeneinander ab, im polyphonen Gefüge läßt sie jede Stimme hervortreten und sich entwickeln. Leider wiederholt Clara Haskil nicht die Exposition; dadurch verlieren wir neun strukturell wichtige Takte. Trotz der Länge dieses Satzes sollten Pianisten die Wiederholungen nicht scheuen, erklingt doch der Pianissimo-Triller des Anfangs nur am Ende dieser neun Takte ein einziges Mal fortissimo; überirdisch schön wirkt danach wieder das Anfangsthema. Auch die Art, wie Clara Haskil die Pause mit der Fermate einhält, ist der Erwähnung wert.
Am Schluß der Durchführung, wo das Hauptthema nach den wie aus der Ferne erklingenden Baßtrillern dreimal erscheint (einmal pp, dann ppp und schließlich nur p - einer der schönsten Momente dieses Satzes), erzielt Clara Haskil einen Klang von unbeschreiblicher Durchsichtigkeit und Zartheit: besser gespielt kann man sich das nicht denken. Trotz allem verliert sie nie den Überblick über den Gesamtaufbau. Und wenn das Anfangsthema wieder erscheint, versteht man plötzlich, wie viel in der Kunst ebenso unvermeidlich wie unvoraussehbar ist.
Der zweite Satz wird nicht - wie so häufig - adagio, sondern andante sostenuto gespielt, doch ohne die Modulationen zu verwischen, die ihn zu einem der schönsten Sätze Schuberts machen. Im Mittelteil läßt Clara Haskil die thematische Verwandtschaft mit dem Hauptthema des ersten Satzes erkennen und nach einer eintaktigen Pause die Wiederholung des ersten Andante-Themas mit ihren leicht veränderten Begleitfiguren ganz natürlich und ungezwungen erklingen. Selten hört man eine Wiedergabe, die deutlicher demonstriert, daß im langsamen Tempo die Kohärenz nur dann gewahrt bleibt, wenn der Klang der gehaltenen Noten fortlebt. Auch verfällt Clara Haskil nie der Gefahr, ihr Spiel vorwiegend vom gefühlsmäßigen Inhalt des Stückes bestimmen zu lassen; die rein emotionale Beziehung zur Musik führt leicht zu Verzerrungen der großen Linie.
Nach den zwei langen getragenen Sätzen folgt das beschwingte und humorvolle Scherzo, mit einer Schlichtheit gespielt, die auf tiefer Überlegung beruht. Die "hinkenden" Synkopen des Trios werden nie übertrieben. Die Oktave G, welche den vierten Satz ankündigt, ermangelt hier des typischen Fortepiano-Akzents; er ist leicht mit dem richtigen Finger-, Handgelenk und Pedalgebrauch zu erzielen, aber kann, falsch ausgeführt, zum leeren Effekt werden. Clara Haskil hatte für solche Effekthascherei nichts übrig. Ihre Oktave ist Ankündigung, wie ein Gongschlag. Er erinnert an das c-Moll-Impromptu op. 90 Nr. 1, an das Finale des Forellenquintetts und das Gran Duo oder auch an das Finale des letzten Satzes von Beethovens B-Dur-Quartett op. 130. Für die Einspielung dieser Sonate erhielt Clara Haskil den Grand Prix du Disque.
Gekoppelt mit diesem Werk von Schubert ist die Mozart-Sonate in C-Dur KV 330, die vermutlich aus dem Jahr 1778 stammt. Clara Haskils Mozartspiel ist das vollendete Beispiel einer Kunst der Phrasierung, die das, was zusammengehört, organisch bindet und von dem, was nicht dazu gehört trennt. Darüber hinaus macht sie die zwischen Noten obwaltende Beziehung klar, desgleichen die Unterschiede und Abstufungen in der Aktivität und Passivität, in der Spannung und Entspannung. Man könnte es vergleichen mit der Ausgewogenheit einer Geste, der Interpunktion der Sprache. Bei ihrem Spiel werden viele Fragen des Stils irrelevant - zum Beispiel ob ein Triller auf seiner Haupt- oder seiner Nebennote beginnt, ob ein Vorschlag mit dem Takt oder zuvor, ob er lang oder kurz zu spielen ist oder ob eine Passage legato oder staccato erklingen soll.
Der sogenannte Stilpurismus war dieser Pianistin fremd: Bei ihr erscheint jedes einzelne Werk in seiner eigenen inneren Logik. Auch hält sie sich frei von den üblichen Klischees, etwas bei ansteigenden Passagen die nächste Note zu betonen oder bei einem Diminuendo langsamer zu werden. Ein Crescendo wird nie übertrieben, es kann sogar in sein Gegenteil, ins Leise, verkehrt werden, jedoch mit einer Spannungsintensität, die seinem eigentlichen Sinn auf eine tiefere Weise gerecht wird. Besonders sollte der Hörer auf die Durchführung achten: Ein schöneres Rubato ist - im Rahmen einer klassischen Sonate - kaum vorstellbar. Man erinnert sich des von Liszt auf das Rubato angewandten Vergleichs mit einem unverrückbar eingewurzelten Baum, dessen Blätter beim leisesten Anhauch einer Brise erzittern.
Das Andante cantabile, das durch manche kühne Dissonanzen seiner fortgemalten Anmut widerspricht, spielt Clara fast im "Tempo di minuetto". Das erhöht das Geheimnisvolle im leisen f-Moll-Mittelteil (in dem sich vielleicht Mozarts Schmerz um den in ebendieser Zeit erfolgten Tod der Mutter kundgibt). Den ersten Satz, ein Allegro moderato, spielt Clara Haskil mit dem Akzent auf dem "moderato", den dritten Satz allegretto, wie von Mozart vorgeschrieben - statt allegro, wie es die meisten tun. Wie gut hat sie begriffen, daß Lebhaftigkeit nicht unbedingt durch übertrieben rasches Spiel ihren Ausdruck findet! Musik kann ertötet werden, wenn sie schneller gespielt wird, als ihr Gehalt es erlaubt.
In den 1789 entstandenen Duport-Variationen, die zwar einem herkömmlichen Genre entsprechen, tritt uns jedoch - wie es diese Interpretation deutlich macht - der herangereifte Mozart entgegen. Clara Haskil bringt das Thema schlicht, ungekünstelt; Monsieur Duports traditionsgebundenes Menuett gewinnt eine neue Dimension. Hier ist Zartheit ihre Stärke. Eine Einzelheit verdient besondere Erwähnung: In Clara Haskils Jugend gab es praktisch noch keine Urtext-Ausgaben. Da sie ein phänomenales Gedächtnis besaß, war sie imstande, ein Stück nach dem einmaligen Hören wiederzugeben, was zur Folge hatte, daß sie sich auch später meist an das in ihrem Gedächtnis aufbewahrte Notenbild hielt. Dies ist vielleicht die Erklärung dafür, daß sie in der 6. Variation - der einzigen Moll-Variation dieses Werkes - in den Takten 157 und 158 die erste Note der rechten Hand als Cis statt als C deutet, wodurch eine übermäßige Sekunde entsteht, die in diesem Zusammenhang befremdend wirkt. Ein kleiner Schönheitsfehler, der dem Ganzen indessen kaum Abbruch tut.
Die vier Klavierkonzerte von Mozart, die in dieser Kassette enthalten sind, sind die zwei Moll-Konzerte KV 466 und KV 491, das Es-Dur-Konzert KV 271 und das A-Dur-Konzert KV 488 (weitere drei Konzerte, nämlich KV 415 in C-Dur, KV 459 in F-Dur und KV 595 in B-Dur, hat sie für die DGG eingespielt). Vom d-Moll-Konzert KV 466 existieren noch zwei weitere Haskil-Aufnahmen: eine bei Westminster mit dem Winterthurer Symphonie-Orchester unter Swoboda, die andere bei Philips mit Paumgartner und den Wiener Symphonikern. Die hier vorgelegte Fassung (in Stereo) ist wie das c-Moll Konzert auf der Rückseite mit dem Orchester der Lamoureux-Konzerte unter Markevitch aufgenommen und dem Gesamteindruck nach die empfehlenswerteste.
Musikwissenschaftler heben zuweilen die Seltenheit von Moll-Klavierkonzerten in der vorromantischen Periode hervor. Sie vergessen dabei, daß außer Bach selbst auch sein Sohn Carl-Philipp Emanuel mehrere Moll-Konzerte komponiert hat. Mozart allerdings steuerte nur zwei Moll-Konzerte bei, die freilich zu seinen bedeutendsten Werken zählen. Ohne den dramatischen Inhalt des d-Moll-Konzertes, das ja in einem optimistischen D-Dur ausklingt, noch die unerlöste Verzweiflungsstimmung des c-Moll-Konzertes zu übertreiben, bringt Clara Haskil doch gerade beides zu erhöhter Wirkung.
Soviel ihr Freundschaft bedeutete - Clara Haskil war im Grunde eine einsame Natur. Vielleicht war es gerade Einsamkeit, was sie benötigte, um ihre geniale Begabung voll zu entfalten. Nach einer Aufführung des A-Dur-Konzertes KV 488 mit Clara Haskil schrieb einmal die "Times": "Ihre Interpretation schien aus der Klage des zweiten Satzes hervorzugehen, als hätte die träumerische Sehnsucht, die Mozart in jenen einzigen Abstecher in die fis-Moll-Tonart legte, im Vor- und Rückgriff auf die beiden schnellen Sätze abgefärbt [...] Sie entkleidete die Musik aller Vergänglichkeit und ließt nur das Ewige gelten." Nach einer Aufführung des gleichen Werkes bei den Salzburger Festspielen 1954 sagte Hans Keller, sie spiele dieses große Konzert, ohne ihre Virtuosität noch ihre große Bescheidenheit zur Schau zu stellen.
Auf der Rückseite des unvergleichlich schön gespielten "Jeunehomme"-Konzerts KV 271 befindet sich das sehr selten aufgeführte A-Dur-Rondo KV 386 mit den Wiener Symphonikern unter Bernhard Paumgartner (welches wahrscheinlich von Mozart als Schlußsatz zum kleinen A-Dur-Konzert gedacht war, das später ein anderes Finale erhielt).
Eine ganze Platte dieser Edition ist Beethovens Drittem Klavierkonzert gewidmet. Clara Haskil spielte das c-Moll-Konzert zum ersten Mal als Vierzehnjährige in Bukarest vor der rumänischen Königin Elisabeth ("Carmen Sylva"), zum letzten Mal 1960 in Montreux, wenige Monate vor ihrem Tod. "Eine jener zauberhaften Offenbarungen, die nur einmal im Musikleben einer Generation vorkommen ...", schreibt Rudolf Elie, Musikkritiker des "Boston Herald", 1956 nach Clara Haskils erstem Auftreten in Amerika nach dem Kriege. Zu beurteilen nach ihrer ersten Einspielung dieses Konzertes bei Heliodor (Westminster 478005; mit dem Winterthur-Symphonie-Orchester unter Henry Swoboda), waren solche Superlative durchaus angebracht. Die jetzt vorliegende spätere Einspielung unter Markevitch zeigt nicht ganz dasselbe hohe Niveau. Das mag an dem übertriebenen Stereo-Klang liegen, der den typischen "Haskil-Klang", an den man gewöhnt ist, beeinträchtigt. Hoffen wir, daß Heliodor die frühere Fassung wieder herausbringt.
Ganz allgemein ist dem Hörer zu raten, zugunsten des authentischen Haskil-Spiels einiges vom idealen Stereoklang zu opfern, wozu man beim Abspielen der Platten die Lautstärke herabmindern und die Baßregion dämpfen muß. Clara Haskils Kunst war eine stille Kunst: Nicht daß sie außerstande gewesen wäre, ein echtes Fortissimo zu produzieren oder daß ihr Spiel schwächlich gewesen wäre; aber ihr Spiel beruhte mehr auf innerer als auf äußerer Kraftentfaltung.</P