Neue Züricher Zeitung

Peter Feuchtwanger

17. November 2008, Neue Zürcher Zeitung

hmn. Vielen gilt er als Guru. Ein sehr berühmter Pianist, der unter Schmerzen spielt, bedauert, ihn nicht rechtzeitig konsultiert zu haben. Ein anderer ging einmal pro Woche für eine Spritze zum Arzt; er lebt heute frei von Medikamenten wie Schmerzen – nachdem ihm in London geholfen worden ist: von Peter Feuchtwanger, einem Klavierlehrer der besonderen Art. In München geboren und in Haifa aufgewachsen, studierte Feuchtwanger in London und Zürich Klavier, Komposition und Dirigieren. Parallel zu einer Laufbahn als Solist entwickelte sich eine immer reichere Tätigkeit als Pädagoge und Berater. Sein Hauptwerk, in verschiedene Sprachen übersetzt und mehrfach wiederaufgelegt, nennt sich ganz einfach «Klavierübungen»; das durch eine DVD ergänzte Buch kann «zur Heilung physiologischer Spielstörungen und zum Erlernen eines funktionell-natürlichen Klavierspiels» verwendet werden. Feuchtwanger war Coach für bekannte Pianisten, unter ihnen Shura Cherkassky und Martha Argerich. Heute gibt er Meisterkurse auf der ganzen Welt und führt in London ein Studio, in dem Virtuosen und solche, die es werden wollen, tätigen Rat finden.

Klavierspielen als die natürlichste Sache der Welt

17. November 2008, Neue Zürcher Zeitung

Zu Besuch bei dem Pianisten und Pädagogen Peter Feuchtwanger

Von Peter Hagmann

Herr Feuchtwanger, wie hat Ihre Geschichte mit dem Klavier angefangen?

Peter Feuchtwanger: Zu Hause hatten wir viele Schallplatten; mein Vater neigte eher zur Oper, die Mutter mehr zu Klavier- und Orchestermusik. Diese Platten hörte ich oft. Bis heute weiss ich noch jede Platte, die wir hatten. Alfred Cortot und Ignaz Friedman, Eugène d'Albert und Frédéric Lamond – diese grossen Pianisten und Liszt-Schüler hatten starken Einfluss auf mich.

Wie sind Sie selber ans Klavier gekommen?

Ich war ein schlechter Schüler, auch wenig interessiert am Unterricht, mehr am Klavier, aber wir hatten kein Instrument zu Hause. Als ich etwa zwölf war, schrieb ich an die Schule – dazu fälschte ich Vaters Unterschrift –, dass ich sehr krank sei, und ging dann statt in die Schule zu einer Nachbarin, die ein Klavier hatte. Dort spielte ich all das, was ich auf den Platten gehört hatte. Alles nach Gehör und, da das Grammophon zu schnell lief und ich das absolute Gehör habe, einen halben Ton zu hoch. Das hat mir sehr geholfen später; ich lege Wert darauf, dass die Pianisten, mit denen ich arbeite, alles in jeder Tonart spielen können, dadurch bekommt man eine grosse Sicherheit.

Haben die Eltern etwas davon gemerkt?

Mein Betrug ist natürlich aufgeflogen, aber die alte Dame von nebenan hat meine Eltern günstig beeinflusst. So durfte ich Stunden nehmen. Mein erster Lehrer liess mich etwas spielen. Ich spielte «La Leggierezza» von Liszt: in fis-Moll, nicht in f-Moll. Er schaute mich an und legte mir dann einen Notenband hin, ich hatte aber noch nie Noten gesehen. Ich sah einfach: Beethoven-Sonaten, ein langsamer Satz, so habe ich es mit der «Mondschein»-Sonate versucht. Nach dem dritten Versuch sagte er, warum das Schwindeln, du kannst keine Noten lesen. Erstens spielst du jedes Mal die falsche Sonate, zweitens in der falschen Tonart, drittens schaust du nie in die Noten. Da bekam ich einen roten Kopf und gab zu, dass ich nicht Noten lesen konnte.

Wie ging es weiter?

Ich weiss, dass Sie erst in London, dann in Zürich Klavier studiert haben.
Ja, zuerst in London, am Trinity College of Music und am Royal College of Music. Dann war ich drei Jahre in der Schweiz, in Zürich. Ich bin ans Konservatorium gekommen zu Max Egger; in seiner Klasse waren ausgezeichnete Pianisten wie John Taylor, Warren Thew, Hans Schicker, Erna Blum, René Gerber, Margrit Weber.

Die flache Hand
Aber Sie hatten ja Ihre eigene Art, Klavier zu spielen. Wie vertrug sich das mit dem Studium?

Ich habe nie Technik lernen müssen, die Lehrer haben akzeptiert, wie ich gespielt habe. Alles, was ich heute unterrichte, ist darauf aufgebaut, wie ich als Jugendlicher gespielt habe. Am Anfang hatte ich einen Komplex; die anderen hatten eine Ausbildung, ich überhaupt nicht. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, dass das, was ich damals gemacht habe, vielleicht doch nicht so schlecht war.

Ist es dann auf eine Konzertlaufbahn zugegangen?

Ja, ich hatte eine Reihe von Auftritten. Aber dann habe ich gemerkt, dass man für so eine Karriere unglaublich Ellbogen braucht. Und mit der Zeit habe ich gesehen, das ist nichts für mich.

Sie sind dann nach London zurückgegangen. Wie ist es zu der pädagogischen Tätigkeit gekommen?

Ich habe schon früh Kollegen – nicht unterrichtet, aber sie haben Rat bei mir gesucht. Meine erste Schülerin wurde Natuscia Calza, die bei Michelangeli gelernt hatte. Sie machte einen grossen Eindruck auf mich; sehr originell und mit einer wunderbaren Technik. Sie kam zu mir, spielte mir vor, und wir besprachen alles. Etwas später gab Martha Argerich ihr erstes Konzert in London, da habe ich sie durch Natuscia Calza kennengelernt. Sie fragte gleich, ob sie auch kommen könne. Am nächsten Tag kam sie – drei Stunden zu spät, dafür mit ihrem ganzen Gepäck. Martha blieb dann ein paar Monate, es war vor dem Chopin-Wettbewerb, und wir arbeiteten jeden Tag. Sie konnte schon alles, sie hätte mich überhaupt nicht gebraucht, man musste sie nur ein wenig zum Üben bringen. Später hat mir dann auch Shura Cherkassky vorgespielt – obwohl er doppelt so alt war wie ich –, und daraus wurden dann dreissig Jahre.

Es soll auch Schüler mit echten physiologischen Problemen gegeben haben.

Ja, viele. Einer der ersten Fälle dieser Art war ebenfalls ein Schüler von Michelangeli. Er hatte einen Nervenzusammenbruch, weil Michelangeli sehr schwierig sein konnte. Er kam nach London und arbeitete mit verschiedenen Leuten, die ihm aber nicht helfen konnten. Er konnte nur mit Cortisonspritzen auftreten. Martha Argerich hat ihn dann zu mir geschickt. Er kam, und nach einem Jahr, wir haben wirklich fast nur stumm am Klavier gearbeitet, konnte er Brahms' B-Dur und Rachmaninows Drittes wieder spielen. Über diesen Schüler hat sich die Tätigkeit mit den Meisterkursen ergeben. Heute gebe ich zwölf bis fünfzehn Kurse im Jahr.

Das Moment des Heilenden spielt eine sehr wichtige Rolle in Ihrer pädagogischen Aktivität.

Ja, ich kann sagen, dass ich selten jemanden getroffen habe, der den Körper richtig einsetzt. Eine der wenigen war – Clara Haskil. Sie war zwar mit ihrer Skoliose vollkommen gebückt, eigentlich behindert. Aber wie sie die Arme benutzt hat und die Hände, die Finger, das hat all das bestätigt, was ich selber auch gefunden hatte. Das hängende Handgelenk, alles von den Fingern gesteuert, die vollkommene Leichtigkeit, auch vom Musikalischen her, das war mein Ideal. Wenn sie in London war, ist sie zu mir üben gekommen. Und dabei habe ich erkannt: So muss man Klavier spielen. Die innere Ruhe und das Nichtvorbereiten. Das Anfangen einfach mit dem Atem, nur aus der mentalen, aber nie aus der physischen Vorbereitung heraus.

Eine andere prägende Erfahrung war die Begegnung mit der Sängerin Kathleen Ferrier. Wie sind Sie mit ihr in Kontakt gekommen, was haben Sie von ihr gelernt?

Als ich in meiner Jugend Kathleen Ferrier zum ersten Mal hörte, in einer Aufführung der Matthäus-Passion in Cambridge, brach ich nach einem Ton in Tränen aus. Das war auch ein sehr bedeutender Einfluss, dieses vollkommen Natürliche, Unaffektierte. Die Liedkunst, die man heute hört, ist oft so affektiert und manieriert, bei ihr war alles so natürlich. Ich hatte noch das Glück, bei Ria Ginster am Konservatorium Zürich zuhören und begleiten zu dürfen. Sie hat auch diese Schlichtheit vermittelt, und sie hat auch Kathleen Ferrier als Beispiel genannt.

Und dann: Vladimir Horowitz?

Mit Horowitz habe ich einen Nachmittag und einen Abend in New York verbracht – vermittelt durch einen Verwandten, den Autor Lion Feuchtwanger. Horowitz hat auf dem Boden gesessen und mir gezeigt, wie man Akkorde übt, dass alles von den Fingern kommt und nicht aus dem Arm.

Was ist, zunächst im Technischen, die Botschaft, die Sie an die Pianisten vermitteln möchten?

Die flache Hand. Am besten kann man es sehen bei Michelangelo, bei den Händen von Adam und Gott. Das ist die natürliche Handhaltung. So kommen wir auf der Taste an, und von da an wird einfach alles vom Fingerendglied gesteuert. Und wenn der Fünfte spielt, darf der Daumen nicht verspannt sein, sondern er muss vollkommen frei sein.

Aber ist es nicht so, dass es bei einer Chopin-Etude einfach Kraft braucht? Muskelkraft?

Nein. Man braucht keine Muskelkraft, nur Energie und Geschwindigkeit. Wenn ein Tänzer in die Luft springt und wieder herunterkommt, so landet er auf den Zehenspitzen, nicht auf die Fusssohlen, er federt. Je schneller ich auf die Tasten herunterkomme, desto mehr Forte bekomme ich, ohne Anstrengung, einfach durch die Kraft des Schleuderns.

Sie sprechen oft von dem Buch «Zen in der Kunst des Bogenschiessens» von Eugen Herrigel.

Das ist, was ich am Klavier erreichen möchte.

Was ist die Kernaussage dieses Buchs?

Es spielt, nicht ich spiele. Der Meister hat mit verbundenen Augen das Ziel getroffen, das Ziel kam auf ihn zu. Es spielt. Oft kommt das nicht vor, aber manchmal, wenn man einen guten Abend hat, wenn man dasitzt und sich selber beobachten kann, dann ist es so, als ob es spielte, als ob sich die herrliche Musik von alleine materialisierte.

Aber man muss doch üben, üben, üben?

Man kann nicht sagen, wie viel jeder üben muss, das ist individuell und sehr unterschiedlich. Vor allem finde ich, man muss Pianissimo üben. Das habe ich auch von Cherkassky erfahren; er hatte den Flügel zugedeckt mit einer Decke, und wenn er geübt hat, dann ganz langsam und Pianissimo. Im Konzert hatte er dann ein schönes Forte. Wer leise spielt, hört sich besser zu. Was die meisten Pianisten heute nicht mehr haben, ist ein schönes Forte.
hört sich besser zu. Was die meisten Pianisten heute nicht mehr haben, ist ein schönes Forte.
Ist es zu laut?

Ja. Ich würde aber sagen, Forte muss stark sein, aber nicht unbedingt laut.

Auf dem Klavier singen
Zum ästhetischen Teil Ihrer Botschaft an die Pianisten. In einem Aufsatz forderten sie Belcanto auf dem Klavier. Was heisst das?


Bel canto, schöner Gesang – aber Gesang, der auch etwas ausdrückt. Die Musik ist auch Text. Ich füge immer wieder, wenn ich am Klavier arbeite, Worte dazu – damit man, zum Beispiel, die Vorhalte versteht. Leopold Mozart sagte schon, dass, wenn wir vier Achtel hintereinander haben, jedes Achtel anders gewichtet ist. Was ebenfalls sehr wertvoll ist: die Unterscheidung zwischen leichten und schweren Takten – das hat Schnabel betont, und darüber haben Schüler von Schnabel geschrieben.Nun leben wir aber doch in einer anderen Zeit als Chopin.

Sie haben ja selbst darauf hingewiesen, dass es heute andere Formen der interpretatorischen Darstellung gibt als damals. Was sich die alten Pianisten auf dem Gebiet der Tempogestaltung erlaubt haben – unglaublich.

Ja, herrlich. Ignaz Friedman in Chopin-Mazurken etwa. Oder Saint-Saëns, wenn er sein g-Moll-Konzert spielt. Es gibt eine Aufnahme, da spielt er auch den Orchesterteil. Zunächst findet man alles unruhig, unrhythmisch. Aber je länger man zuhört, desto mehr erkennt man: Es ist vollkommen rhythmisch, nur herrscht innerhalb des Takts eine grössere Freiheit, als es heute üblich ist. Das können wir nicht nachmachen, aber wir können unsere eigene Freiheit erreichen, wenn wir die alten Pianisten hören und besonders die Sänger des goldenen Zeitalters.