Carhart



T. E. Carhart: Ein Klavier in Paris. Eine ungewöhnliche Freundschaft.

Deutsch von Kurt Neff, Kindler Verlag, Berlin 2002, Auszug S. 257 - 266, mit freundlicher Erlaubnis des Kindler Verlages und des Autors.

MEISTERKURSE

Die Rückkehr in die Welt des Klaviers im Erwachsenenalter führte mich im Laufe der Zeit zu einer Reihe von überraschenden Entdeckungen betreffend die Einübung von Selbstdisziplin, die niemals aufschlussreicher waren als in den zwei Fällen, wo ich jeweils Gelegenheit hatte, die Lehrmethode eines anerkannten Meisters seines Faches zu beobachten. In den ersten Monaten des Unterrichts bei Anna entdeckte ich von neuem das schlichte Vergnügen, einen Lehrer zu haben. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die an der Klaviatur echte Autodidakten sind, aber sie sind die seltenen Ausnahmen und ich wusste, ich war keiner von ihnen. Sieht man ab von Komposition und Improvisation, so kann man sagen, dass Musizieren etwas ist, in dem sich eine vorgegebene Struktur – die Partitur – und die Kreativität des Interpreten auf einmalige Weise durchdringen. Die Fähigkeit, alle Aussagen einer Partitur auf einem Instrument korrekt in Töne umzusetzen, ist nur der Anfang; die wirkliche Arbeit besteht darin, die Intentionen des Komponisten in erkennbarer Form mit dem eigenen Selbst zu imprägnieren. Mich als Erwachsener noch einmal in diese harte Schule zu begeben war ein schwerer Dämpfer für das stolze Ego, zugleich aber auch eine merkwürdig aufregende Erfahrung. Nur ein Lehrer vermag dir den Anschub zu geben, der dich befähigt, in die Höhenluft der grenzenlosen musikalischen Vervollkommnungsfähigkeit aufzusteigen.

In den ersten Unterrichtsmonaten arbeitete Anna darauf hin, mir sowohl Sicherheit zu geben als auch mich zu fordern, wobei sie sich auf die grundlegenden Dinge konzentrierte und Fragen der anspruchsvollen musikalischen Interpretation noch zurückstellte. Im Notenlesen war ich miserabel und über das Verhältnis zwischen Dur– und Moll–Tonart wusste ich so gut wie nichts. Freilich schienen meine Hände ihr eigenes Gedächtnis zu haben, so dass ich bestimmte Übungsstücke und Passagen mit einer Sicherheit spielte, von der ich vorher nicht im Mindesten geahnt hatte, dass ich sie besaß. Es war eine eigenartige, beunruhigende Erfahrung, dass Geschicklichkeiten, die ich vor langen Jahren perfekt beherrscht hatte, mir den Dienst verweigerten, während ich andere Elementartechniken überraschend mühelos zu reaktivieren vermochte.

Von Anfang an hielt Anna mich zu regelmäßigen Übungen an, die auf die Entspannung meiner Schultern, Arme und Hände abzielten und deren Wirkung davon abhing, dass ich an der Tastatur eine, wie sie sich ausdrückte, ´natürliche Haltung´ einnahm. Für sie waren das ´Peters Übungen´ und ich erfuhr bald, dass sie von Peter Feuchtwanger entwickelt worden waren, einem berühmten Klavierlehrer in London, den Anna verehrte. Bei den Übungen ging es in erster Linie darum, Arme und Hände bewusst zu entspannen und dann die vorgeschriebenen Töne zu spielen, indem man die Finger auf die entsprechenden Tasten ´warf´ (wie Anna es nannte).

Auf den ersten Blick eine einfache Sache – die Töne zu spielen war gewiss nicht schwer –, indes kam es einzig auf die richtige Bewegungsweise an: eine jähe Energieentladung im Katapultstart der Hand mit sofortiger Rückkehr zur stabilen Ruhehaltung. Unter dieser Voraussetzung waren die Übungen für mich außerordentlich schwierig zu bewältigen. Im gedanklichen Vorgriff auf die Bewegung spannte ich regelmäßig schon vorher die Armmuskulatur an, und jedes Mal unterbrach mich Anna, fasste meinen Arm und schüttelte ihn leicht, bis die Muskeln sich wieder entspannt hatten. ´Ruhe, Werfen, Ruhe´, skandierte sie, aber einen Ausgangszustand vollkommener Ruhe und Entspannung zu erreichen war ein schwieriges Unterfangen. Je öfter ich allerdings die Übungen wiederholte, desto klarer wurde mir, wie sie auf den Abbau jener Erwartungsspannung hinwirkten, mit der wir uns so häufig an das Klavier setzen; mehr und mehr schätzte ich sie als Remedium gegen eine Gewohnheit, die sich schon zu Miss Pembertons Zeiten bei mir eingenistet haben musste.

Zum Ende einer Stunde informierte mich Anna einmal, dass Peter im nächsten Monat nach Paris komme, um hier einen dreitägigen Workshop abzuhalten. In der Musikwelt nennt man diese spezielle Form des Unterrichts einen Meisterkurs: Eine anerkannte Koryphäe erteilt in kontinuierlicher Folge Einzelunterricht vor den anderen Kursteilnehmern, in selteneren Fällen auch vor größerem Publikum. Für mich sei es sicherlich noch zu früh, am Unterricht teilzunehmen, meinte Anna, aber als Gasthörer sei ich herzlich willkommen. Im Lauf der folgenden Wochen bat mich Anna gelegentlich um Hilfe beim Übersetzen der Telefaxe, die sie aus London erhielt, und auf diesem Weg erfuhr ich einige elementare biographische Fakten über diesen Lehrer, den Anna nur halb im Scherz als ihren Guru apostrophierte.

Er wurde in seiner Jugend als autodidaktischer Wunderknabe entdeckt und studierte daraufhin bei einigen der größten Pianisten der Zeit – Fischer, Gieseking, Haskil –, ehe er eine kurze, glänzende Karriere als Konzertpianist durchlief. In der Folge widmete er sich der Ausbildung von Schülern und wurde, darob hoch geachtet, für viele nachmalige Konzertpianisten zum Entdecker und Förderer ihres Talents. In einer seiner Veröffentlichungen schrieb er: "Es gibt vielerlei Methoden, etwas zu bewerkstelligen, aber immer nur eine ist die natürliche", und das scheint mir die prägnanteste Zusammenfassung der praktischen Grundsätze, auf die Anna mich einzuschwören suchte.

Der Workshop fand an einem langen Wochenende – Freitag, Samstag, Sonntag – statt und zur ersten Ganztagssitzung versammelten sich insgesamt fünfzehn Personen in Annas kleiner Wohnung um den ehrwürdigen Bechstein–Flügel. Peter war ein hoch gewachsener, schlanker Mann mit der Aura eines Weisen: scharf konturierte, fast strenge Gesichtszüge, deren Kantigkeit jedoch Gegengewichte hatte in den ungeheuer ausdrucksvollen Augen, die hinter dicken Brillengläsern ein reges Eigenleben entfalteten, und in dem halben Lächeln, das, eine Mischung aus Nachdenklichkeit, Wissbegier und Vergnügtheit spiegelnd, regelmäßig über das Gesicht huschte.

Der vollkommen gerade Rücken verlieh seiner Erscheinung etwas enorm Hoheitsvolles, aber als er die Arme bewegte, war ich überrascht und hingerissen von seiner Gestik, die elegant und geschmeidig war, als ob einem Baumstamm Flügel gewachsen wären. Sein Alter eindeutig zu bestimmen war unmöglich (ich tippte auf sechzig): Manchmal sah er alt und sogar welk aus, aber schon im nächsten Augenblick konnte er mit einer Dynamik auftreten, als hätte er soeben zwanzig Jahre abgeworfen, und seine Züge wirkten jugendlich straff.

Der Kurs begann um neun Uhr morgens; zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns alle schon auf die im Halbkreis vor dem Bechstein aufgestellten Polstermöbel und Stühle verteilt. Meine Bekannte Claire setzte sich als Erste an die Tasten – sie spielte mehrere Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier – und wir lauschten ihrer Interpretation mit großer Aufmerksamkeit, während Peter, der etwas abseits saß, ihrem Spiel mit den Augen in seiner eigenen Partitur folgte. Nur an ganz wenigen schwierigen Stellen kam sie aus dem Tempo oder griff daneben, im Ganzen jedoch war es eine überzeugende und auch wirklich schöne Darbietung. Als sie geendet hatte, klatschten wir begeistert Beifall. Peter erhob sich stumm von seinem Stuhl und legte seine Partitur auf den nächsten Notenstapel.

Er eröffnete das Gespräch mit einigen Fragen an Claire: Wie lange sie den Vortrag einstudiert habe, warum sie speziell diese Stücke ausgewählt habe, und Ähnliches mehr. Er ließ sie mehrere Male hintereinander tief durchatmen, und sobald sie ein wenig entspannter war, bat er sie, ein bestimmtes Stück zu wiederholen. Dabei postierte er sich hinter ihr, und sie war noch nicht sehr weit gekommen, da unterbrach er sie und sagte: "An Ihren Armen müssen wir noch arbeiten." Dann sprach er darüber, wie wichtig es sei, die Hände entspannt auf elliptischen Bahnen zu führen, in natürlich fließender Bewegung ohne innere Vorbereitung. Auf dem Konservatorium, sagte er, werde noch allzu oft gelehrt, dass man sich innerlich vorbereiten müsse, um den richtigen Ton zu produzieren; die sachliche Ironie sei aber, dass innere Vorbereitung Spannung erzeuge, die bewirke, dass wir den richtigen Ton verfehlten. "Die natürliche Bewegung ist mit einem höheren Risiko verbunden", räumte er ein, "aber das Leben als solches ist eine riskante Sache und die Musik ist ein Element des Lebens, also ist auch sie nicht ohne Risiko zu haben."

Peter bat Claire, einige Forte–Akkorde aus ihrer Partitur zu spielen, und gab ihr konkrete Ratschläge, wie sie Arme und Hände bewegen solle, um den gewünschten Klang zu erzielen. "Je schneller Sie die Hand öffnen, desto mehr forte das Ergebnis. Sehen Sie! Was Sie brauchen, sind rasche, entspannte Bewegungen ohne jede innere Vorbereitung. Sie müssen jede einzelne Bewegung genauso ausführen wie ein Chamäleon, wenn es eine Fliege fängt." Er nahm Claires Arm zwischen seine Hände und schüttelte ihn leicht, ganz ähnlich wie Anna meinen geschüttelt hatte.

Als Nächstes öffnete er sacht Claires Hand, bog die gekrümmten Finger auf und richtete sie gerade nach vorn, sodass sie ein gutes Stück weiter nach innen über die Tasten reichten. "Wir müssen alle miteinander diese alten, albernen Regeln vergessen, die so ähnlich lauten wie: "Gebrauch deine Finger wie kleine Hämmer" oder "Spiel Klavier, als ob du mit der Handfläche einen Apfel fest halten wolltest!"" Man müsse nicht die Finger hochheben und von oben auf die Tasten klopfen, sagte er. Vielmehr müssten die Finger so etwas wie die Verlängerungen der Tasten sein, gedehnt und in fließender Bewegung. Er forderte Claire auf, eine Passage mit dieser Vorstellung im Bewusstsein zu spielen, und siehe da!, das Ergebnis war von ganz anderer Klangqualität.

Im Weiteren arbeitete Peter mit Claire eingehend an Trillern und Verzierungen (" Bauen Sie Ausschmückungen ein, dann nehmen Sie sie wieder weg: Ein Zimmer voller Gäste kann auch sehr gefallen, wenn die Leute wieder gehen"), an alternativem Fingersatz ("Das Gefährlichste ist das >Fingergedächtnis<; wenn man ein Stück klanglich wirklich kennt, spielt es keine Rolle, welchen Finger man benutzt, aber wenn einen das Fingergedächtnis im Stich lässt, sieht man alt aus") und an der Vermeidung der taktierenden Betonung ("Nennen Sie mich >Professor Antitaktbetonung<! Ich halte es mit dem großen österreichischen Klavierpädagogen Artur Schnabel, der einmal gesagt hat: Taktstriche sollen sein wie Kinder – man soll sie sehen, aber nicht hören").

Nachdem Claire zum Abschluss noch einmal eine Seite der Partitur in völlig neuer, nuancierter Phrasierung vorgespielt hatte, dankte Peter ihr für die ´schöne Interpretation´ und beglückwünschte sie zu dem erzielten Fortschritt. Wir Zuhörer atmeten nach der intensiven Konzentration der letzten neunzig Minuten geschlossen auf. Aus einem Unterrichtsraum verwandelte sich Annas kleines Wohnzimmer nun in eine Partylounge; Getränke und Snacks wurden herumgereicht und mit einem Schlag kam ein halbes Dutzend lebhafter Unterhaltungen in Gang. Diejenigen, die das Vorspielen noch vor sich hatten, sorgten sich laut um die Qualität ihrer Vorbereitung, Claire hingegen strahlte vor Erleichterung, Freude und Zufriedenheit.

Ich staunte, wie mühelos Annas unscheinbare Wohnung in diesem mausgrauen Vorort das Gesicht gewechselt hatte. Die bloße Gegenwart des Bechstein hob die Vorgänge auf ein anderes Niveau, denn er entsprach vollkommen dem Format von Peters Unterricht. Ein geringerwertiges Instrument hätte eine andere Atmosphäre verbreitet, in der man Schwierigkeiten, mit denen ein Spieler kämpfte, zum Teil dem Klavier zur Last gelegt hätte; der Bechstein jedoch entzog dieser Argumentation den Boden. Ein besseres Instrument hätte sich keiner der Vorspielenden wünschen können und so war es allein ihre Sache, was sie damit zu Wege brachten.

Täglich spielten vier Teilnehmer vor, zwei am Morgen und zwei am Nachmittag. Der Perfektionsgrad des Spiels reichte vom Können des begabten Dilettanten bis zu konzertpianistischer Vollendung, aber Peter behandelte alle mit dem gleichen Ernst – der sich niemals zur Strenge oder gar Härte steigerte – und stellte sich in der Sache jedes Mal präzise auf die Person an der Tastatur ein. Er widmete den individuellen Problemen der einzelnen Schüler sehr viel Zeit und richtete seine pädagogische Vorgehensweise stets auf die jeweilige Problemlage aus. "Was wollte der Komponist mit diesem Stück sagen?", lautete eine refrainartig wiederkehrende Vorgabe für die gemeinsam mit dem jeweiligen Schüler angestellten Überlegungen und auf dem Weg über Informationen und Detaileinsichten jedweder Art suchte er sich der Antwort anzunähern. Manchmal war ein Stil durch eine ganz bestimmte historische Konstellation geprägt und Peter redete dann mehrere Minuten über die Vorbilder und Einflüsse, die auf den Komponisten gewirkt hatten. " Sie müssen das Werk Carl Philipp Emanuel Bachs kennen, um die richtige Sicht auf Haydn zu gewinnen. In den Sonaten verbindet Haydn die norddeutsche Schule des Kontrapunkts mit Melodielinien der italienischen Gesangskunst und allmählich fließen die beiden Stile ununterscheidbar ineinander. Sie sollten das einmal herauszuhören versuchen."

Bei anderen Gelegenheiten gab er zwar immer noch mit historischem Wissen durchtränkte, aber prosaischere Kommentare ab, die uns daran erinnerten, dass Komponisten Menschen und nicht Götter waren. Wir erfuhren von ihm, dass Chopin selten öffentlich auftrat und immer sehr leise spielte. Das lag nicht, wie ein verbreiteter Irrglaube wissen will, an einer Unfähigkeit des Künstlers, laute Töne hervorzubringen, sondern war eindeutig eine bewusste Entscheidung. Chopin zog seinen Pleyel den Flügeln von Erard vor, weil der Pleyel für ihn nur dann schön klang, wenn er leise und mit Gefühl gespielt wurde. Über die Instrumente von Erard sagte Chopin: "Auf ihnen klingt immer alles schön, deswegen muss man weniger sorgfältig darauf achten, einen schönen Klang zu erzeugen."

Oft lockerten humoristische Einsprengsel die allzu ernste Atmosphäre auf, so etwa als Peter uns den Ausspruch zitierte, mit dem ein ungehaltener Ravel das lahme Tempo einer Pianistin beim Einüben seiner Pavane pour une infante défunte rügte: "Madame, c'est l'infante qui est défunte pas vous!"
Obschon tolerant, ja fast grenzenlos nachsichtig, reagierte er mit gutmütiger Ironie, wenn jemand sich den Fauxpas erlaubte, die Musik nicht ernst zu nehmen. Einer der Schüler spielt eine Granados–Suite vor und brach, beim Dakapo angekommen, einfach ab. "Le reste, c'est pareil", verkündete er salopp. In dem Zimmer herrschte Totenstille, während Peter einen Moment lang nacktes Entsetzen markierte, bevor er loslegte. "Das Gleiche– Das Gleiche– Glauben Sie denn, Klavier spielen ist so etwas Ähnliches, wie ein Tonband im Schnelldurchlauf vorzuführen– Wenn Granados ein Dakapo haben will, dann hat er einen Grund dafür, und zwar einen musikalisch sinnvollen Grund. Ein Dakapo ist niemals >das Gleiche<. Wir nehmen uns jetzt mal zusammen die Partitur vor, einverstanden?"

Ein anderer Schüler spielte beim Vortrag eines Schubert–Tanzes mehrmals falsch und stöhnte schließlich auf: "Bei mir zu Hause passieren mir diese Fehler nicht!" Peter reagierte umgehend: "Dieses Zauberklavier, auf dem niemand falsch spielt, würde ich gern einmal sehen! Eigentlich kommt es auf fehlerfreies Spiel gar nicht so sehr an. Ihr musikalischer Ausdruck – das ist es, was zählt. Zeigen Sie mir ein Klavier, das Ihnen diese Aufgabe abnimmt, dann glaube ich an Zauberei."

Im Lauf dieser drei Tage zeigten sich unvermeidlicherweise auch einige seiner Aversionen; zumeist betrafen sie Unarten, für die er die verzerrende Wahrnehmungsweise der Moderne verantwortlich machte. Besonders störte ihn die Gewohnheit, alles zu laut zu spielen. Dass eine Passage, für die in der Partitur crescendo verlangt ist, wie selbstverständlich in höchstmöglicher Lautstärke gespielt wird, war für ihn das musikalische Klischee par excellence der letzten hundert Jahre. Wiederholt übte er mit dem jeweiligen Schüler, der jeweiligen Schülerin die Erzeugung eines schön klingenden Fortes ein. Eine derart nuancierte Tongebung sah er an die Voraussetzung des Spielens mit natürlichen Bewegungen gebunden, das ohnehin sein Grundprinzip war. Er verglich es mit dem Rhythmus und dem Formenreichtum der Rede, bei der wir Zeitmaß, Intonation und Gestik, diese so wichtigen Faktoren, in ganz natürlicher Weise handhaben.

Während der Mittagspause unterhielt Peter uns mit einer Fülle von Anekdoten. So schilderte er unter anderem, wie er die große Bach–Interpretin Rosalyn Tureck zum ersten Mal am Clavichord gehört hatte. "Anfangs war ihr Spiel fast unhörbar, ein Flüstern in einer lauten Welt. Es war, wie wenn man eine Dunkelkammer betritt – unsere Sinne mussten sich erst einmal auf die neuen Wahrnehmungsbedingungen einstellen."

Dabei fiel ihm das Streitgespräch ein, das einmal zwischen Wanda Landowska und Rosalyn Tureck stattgefunden hatte und in dem es um die Frage gegangen war, ob das Pianoforte überhaupt das geeignete Instrument zur Interpretation von Bachs Musik sei oder ob diese nicht vielmehr, wie Landowska behauptete, einzig auf dem Cembalo angemessen wiedergegeben werden könne. "Spiel du Bach auf deine Weise", hielt sie Tureck entgegen. "Ich spiele ihn auf seine Weise." Ein amüsantes Bonmot, räumte Peter ein, das aber nichts daran ändere, dass Rosalyn Turecks Standpunkt sich inzwischen durchgesetzt habe.

Über das Wochenende entwickelte sich innerhalb der Gruppe eine Vertrautheit und menschliche Nähe, die es, als der Workshop am Sonntagnachmittag zu Ende ging, den einzelnen Teilnehmern schwer machte, sich von dem allen nun wieder zu lösen und ihres Weges zu ziehen. Die Veranstaltung war etwas ganz anderes gewesen als jene Vortragsabende, gegen die ich schon vor langer Zeit eine unausrottbare Abneigung ausgebildet hatte, und obwohl ich mein pianistisches Können noch nicht so optimistisch beurteilte, dass ich mich ernstlich getraut hätte, ein Stück einzustudieren, um es vor anderen vorzutragen, verspürte ich doch zum ersten Mal Lust darauf, wenigstens probeweise einmal damit anzufangen. Später machte ich die frappierende Entdeckung, dass Peter mit der gleichen Methode, insbesondere den gleichen Übungen, führende internationale Konzertpianisten in Form hält.

Jeder Teilnehmer des Kurses war hoch motiviert, sein Spiel zu verbessern, jeder hatte sich für diese Veranstaltung und diesen Lehrer entschieden, um ein Stück weiter zu kommen. Unter Peters Anleitung ging man das Klavierspiel von der körperlichen Komponente her an, beinah so als ob es ein mit dem Oberkörper ausgeführter Tanz an der Tastatur wäre, und dazu waren die Konzentration und die Beweglichkeit eines Bodenturners erforderlich. Diesen Ansatz kombinierte er mit einer sehr persönlichen philosophischen Betrachtungsweise des musikalischen Fundus, deren solides Fundament alle verfügbaren gesicherten Erkenntnisse über die Intentionen des jeweiligen Komponisten waren, und das Ergebnis dieser Kombination war eine Musikpädagogik ganz erstaunlichen Zuschnitts.