Domenico Scarlatti

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von Peter Feuchtwanger

Alleine die Tatsache, daß Domenico Scarlatti mehr als 550 Sonaten für Tasteninstrumente geschrieben hat, wäre wohl nicht bemerkenswert genug, um darin eine außergewöhnliche Erscheinung zu sehen. Andere Komponisten seiner Zeit und auch späterer Generationen zeigten sich ebenso produktiv und gewiß vielseitiger.

Betrachtet man hingegen die erstaunliche Inspiration Scarlattis, die uns in all diesen Sonaten begegnet, und bedenkt man weiterhin, daß ihre Entstehung sich dem letzten Lebensabschnitt verdankt - dann müssen wir sehr wohl von einer ungewöhnlichen, ja: einzigartigen Komponisten-Persönlichkeit sprechen.

Domenico Scarlatti wurde im Jahre 1685 in Neapel geboren; sein Vater war der große Alessandro Scarlatti, einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit. Domenicos musikalisches Talent entwickelte sich früh und mit solcher Intensität, daß er bereits im Alter von 16 Jahren den Posten eines Musikers der Königlichen Kapelle am Hofe von Neapel innehatte.

Zwei Jahre später ließen sich Vater und Sohn in Rom nieder, wo Domenico von den bekanntesten Musikern Italiens unterrichtet wurde. Schon bald hatte er sich einen Namen sowohl als Komponist, als auch Cembalist gemacht. Sein Amt des Maestro di Capella der Sankt-Peters-Basilika (als Nachfolger von Tommaso Baj) versah er indes nicht allzu lange: aus der heimatlichen Umgebung drängte es ihn in fremde, ferne Länder.

Auf seinen Reisen besuchte er auch England, bevor er sich in Lissabon niederließ - dort wurde er Cembalist am königlichen Hof und unterwieß die Infantin Maria Braganza, nachmalige Prinzessin von Asturien. Als sie später Königin von Spanien wurde, folgte Scarlatti ihr an den spanischen Hof.

Im neuen Wirkungskreis vollzog sich seine unfaßbare Wandlung als Komponist; kaum eines seiner Werke aus der Zeit vor der Übersiedlung nach Spanien unterscheidet sich von denen seiner weniger bekannten Zeitgenossen. Selbstverständlich darf die Bedeutung seiner Ausbildung im Palestrinischen Kontrapunkt, in Gesang und instrumentaler Musik für sein Schaffen keinesfalls unterschätzt werden; indes war es die Volksmusik Portugals und insbesondre Spaniens, die ihn zu großer Begeisterung beflügelte, und dem Erblühen seines Genies in den späten Sonaten fruchtbaren Boden bereitete.

Es gibt kaum Aspekte der spanischen Musik, deren Eigenart sich nicht in diesen Sonaten spiegelte, aus denen uns die glühende Leidenschaft einer Flamenco-Tänzerin wie auch die stolze Eleganz und Grazie eines Matadors entgegentreten. Kein spanischer Komponist - selbst nicht ein Soler, de Falla, Albeniz oder Granados - vermochte die Essenz der spanischen Musik besser zu fassen als dieser Italiener Scarlatti.

Freilich hatte er sizilianische Vorfahren, und lange Zeit war der südliche Teil Italiens spanisch dominiert - was seine Empfänglichkeit für die spanische Folklore gewiß geformt haben mag; dies umso mehr, als der starke maurische Einschlag nicht nur die spanische, sondern auch die Musik im südlichsten Teil seines Vaterlandes wesentlich geprägt hat.

Das große Mißverständnis, worunter Scarlattis Musik bis in unsre Zeit litt, ist begründet in der falschen Einschätzung eben dieser Einflüsse autochthoner Musik und deren Bedeutung für das kompositorische Anliegen. Seine erstaunlich revolutionäre Harmonik - sehr häufig zerstört durch redaktionelle Eingriffe der Herausgeber, die die gewaltigen Dissonanzen zu konventionellem “Wohlklang” zurechtstutzten - wird leichter verstehen können, wer mit den charakteristischen Elementen andalusischer Gesangs- und Instrumentalmusik vertraut ist. Das gilt auch für seine manchmal bizarren Rhythmen und eigenartigen Klaviereffekte - unmittelbar umgesetzte Inspiration: Zigeunermusik mit dem rasselnden Klicken der Castagnetten, den schrummenden Klängen der Guitarren, den klagenden Gesängen, und der Fröhlichkeit und Leidenschaft der Tänze, die sich in lautmalerischen Stampfbewegungen manifestieren.

Domenico Scarlatti wird oft als “musikalischer Clown” betrachtet. Es ist wohl wahr, daß viele seiner Sonaten Heiterkeit und Witz verbreiten, auch die Freude an reiner Klavier-Virtuosität; andre hingegen gelten eher der klagenden Seele, heftigen Gemütsbewegungen, dem Tiefsinn. Scarlatti ist fähig, in seinen Sonaten - ebenso wie der Spanier im gelebten Alltag - Freude und Kummer, Lachen und Weinen in rascher Folge “nebeneinander”zusetzen. Die erste Hälfte einer üblich zweiteiligen Scarlatti-Sonate kann täuschend einfach und unscheinbar daherkommen - während sich im folgenden Teil beinahe immer das Unerwartete ereignet. Ein solch unbekümmert unschuldiger Beginn, oft fröhlichen Gehalts, wandelt sich plötzlich ohne jede Warnung in tiefste Melancholie - und findet genauso schnell zur anfänglichen Heiterkeit zurück; als ob der Komponist sich seiner tiefen Empfindung schämte.

Darin läßt sich durchaus eine Parallele zur Wesensart der Spanier ausmachen, die selbst im größten seelischen Schmerz den höchsten Grad an Würde bewahrt. In dieser Hinsicht zeigt Scarlatti eine deutliche Ähnlichkeit mit Chopin, und ganz besonders mit dem Chopin der Mazurken. Schließlich sollten wir nicht vergessen, daß Scarlatti neben seinen kompositorischen Verdiensten auch einer der bedeutendsten Neuerer der klavieristischen Spieltechnik ist; seine Sonaten bahnen den Weg für spätere Generationen von Innovatoren - Chopin, Liszt, Debussy, Ravel.... Domenico Scarlatti starb in Madrid im Jahre 1757 und hinterließ der Nachwelt eines der reichsten musikalischen Werke, die es je gab.

Deutsche Übertragung von Stephan Werndt